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Mikroskopisches Bild von Nervenzellen, die aus Stammzellen eines PCH2a-Patienten hergestellt wurden. © Theresa Kagermeier und Simone Mayer, HIH

Biologischer Hintergrund zu PCH2

Pontocerebelläre Hypoplasien (PCH) sind eine Gruppe neurogenetischer Erkrankungen, bei denen das Kleinhirn und die Pons stark verkleinert sind. Klinisch ist die PCH gekennzeichnet durch schwerwiegende und mehrfache Behinderungen, die eine enorme Belastung für Patientinnen und Patienten sowie Familien darstellen.1234

Bislang gibt es keine therapeutischen Behandlungsansätze für PCH. PCH2 ist die häufigste PCH-Form, aber es handelt sich immer noch um eine seltene autosomal rezessive Störung mit einer Prävalenz von weniger als 1:200.000 4. Neben einer schweren Entwicklungsverzögerung, die bereits ab der Geburt beginnt, zeigen PCH2-Kinder eine dyskinetisch-spastische Bewegungsstörung und epileptische Anfälle sowie gastrointestinale Probleme 3. Neben der pontocerebellären Hypoplasie entwickeln die Patientinnen und Patienten eine progressive Mikrozephalie56.

Aufgrund der Entwicklung der Mikrozephalie, einer Verringerung des neokortikalen Volumens nach der Geburt und Resten des glialen Gerüsts, welche in Regionen des Kleinhirns ohne Neuronen 5 gefunden wurden, wird davon ausgegangen, dass es sich bei PCH2 um eine neurodegenerative Störung handelt. Auch das frühe Auftreten der Krankheit deutet auf eine neurologische Entwicklungsstörung hin.

Eine Untergruppe von PCH wird durch genetische Varianten in Mitgliedern des TSEN-Komplexes 4 verursacht. Die meisten (90 %) der PCH-Fälle werden durch eine homozygote Missense-Variante im TSEN54-Gen (p.TSEN54 A307S) verursacht. Diese werden als PCH2a bezeichnet 4,7. PCH2a ist also eine genetisch homogene Störung.

TSEN54 kodiert für eine Untereinheit des tRNA-Spleißendonuklease-Komplexes (TSEN), der benötigt wird um Introns aus prä-tRNAs zu entfernen, um so reife tRNAs zu erzeugen, und ist von Prokaryonten bis zu Eukaryonten erhalten 8. Eine Untergruppe der tRNAs muss gespleißt werden, bevor sie ihre Aufgabe erfüllen kann Aminosäuren während der Translation an das Ribosom zu liefern. 28 Intron-enthaltende tRNAs sind beim Menschen bekannt 9 . Der TSEN-Komplex besteht aus TSEN2, TSEN34, TSEN54 und TSEN15. TSEN2 und TSEN34 sind die katalytischen Untereinheiten, während TSEN54 und TSEN15 Strukturproteine sind 8,10. TSEN54 soll als „molekulares Lineal“ fungieren, das die tRNA-Struktur und damit die Position der Spleißstelle erkennt 11.

Jüngste Strukturdaten des TSEN-Komplexes unterstützen diese Vorstellung und legen nahe, dass TSEN54 zusätzlich als organisatorisches Gerüst für die katalytischen Untereinheiten dient und die tRNA-Bindung unterstützt 5,12,18. Interessanterweise wurde kürzlich festgestellt, dass PCH-Mutationen die Endonukleaseaktivität des TSEN-Komplexes nicht beeinträchtigen ¹⁹. Stattdessen ist die thermische Stabilität des Komplexes in Patientenfibroblasten reduziert, was zu veränderten tRNA-Pools führt ¹⁹. Die Strukturanalyse bestätigt diesen Befund, indem sie zeigt, dass die Mutationen weit entfernt vom aktiven Teil liegen. Die Struktur um TSEN54 A307S wurde jedoch nicht geklärt, da sie in einer unstrukturierten Region liegt 5,12,18, die die Interaktion mit CLP1 vermittelt 5.

Die Bemühungen, den zellulären Mechanismus der Pathophysiologie in Tiermodellen zu etablieren, waren bisher nicht schlüssig. Beim Zebrafisch führt der Verlust der TSEN54-Funktion zum Zelltod im Gehirn während der Entwicklung7. Ein vollständiger Verlust von TSEN54 bei Mäusen führt zu früher embryonaler Letalität13. Außerdem führen Varianten von TSEN54 bei Hunden zu einer neurologischen Störung, die durch eine Leukodystrophie gekennzeichnet ist14. Kürzlich wurde ein Fliegenmodell für PCH2 veröffentlicht, die Bedeutung für den klinischen Phänotyp ist jedoch unklar15. Außerdem sind die katalytischen Untereinheiten des TSEN-Komplexes aus Prokaryonten konserviert, während die nicht-katalytischen Untereinheiten in Eukaryonten eine wichtige Rolle spielen.

Insbesondere TSEN54 hat im Primatenstamm evolutionäre Veränderungen erfahren16. Diese Entdeckungen deuten auf eine artspezifische Auswirkung der TSEN54-Fehlfunktion auf die Gehirnentwicklung hin. Zusammengenommen hat das Fehlen geeigneter Modelle für PCH2a bisher die Aufklärung der molekularen Pathologie verhindert. Um diese Wissenslücke zu schließen, wurde kürzlich ein humanes In-vitro-Modell von PCH2a unter Verwendung von aus Patienten gewonnenen pluripotenten Stammzellen und hirnregionalspezifischen Organoiden etabliert17.

Das TSEN54-Protein wird überall im Körper in unterschiedlichen Mengen exprimiert (Human Protein Atlas, proteinatlas.org) 8. Auf der RNA-Ebene wird TSEN54 im gesamten sich entwickelnden menschlichen Gehirn exprimiert (Human Brain Transcriptome) 9, beginnend im ersten Trimester der Schwangerschaft 7. Im zweiten Schwangerschafts-Trimester wird TSEN54 in hohem Maße im sich entwickelnden Kleinhirn, in der Pons sowie den Nuclei olivares exprimiert  4. Seine Expression scheint auf der Ebene der RNA im Neocortex und Kleinhirn nicht zelltypspezifisch zu sein 10,11. Es ist daher unklar, warum speziell Kleinhirn und Pons bei PCH2a betroffen sind 7.

Im Einklang mit den Erkenntnissen, dass Anomalien im tRNA-Stoffwechsel eine Vielzahl von neurologischen Entwicklungsstörungen verursachen 12, wurde die Hypothese aufgestellt dass bestimmte Hirnareale, wie das Kleinhirn und der Hirnstamm, besonders anfällig für TSEN-Fehlfunktion sind, da sie während des letzten Trimesters der  Schwangerschaft und der frühen postnatalen Entwicklung einen höheren Bedarf an diesem Komplex haben 4.

Quellen

  1. van Dijk, T., Baas, F., Barth, P.G., and Poll-The, B.T. (2018). What’s new in pontocerebellar hypoplasia? An update on genes and subtypes. Orphanet J Rare Dis 13, 92. 10.1186/s13023-018-0826-2. ↩︎
  2. Ammann-Schnell, L., Groeschel, S., Kehrer, C., Frolich, S., and Krageloh-Mann, I. (2021). The impact of severe rare chronic neurological disease in childhood on the quality of life of families-a study on MLD and PCH2. Orphanet J Rare Dis 16, 211.10.1186/s13023-021-01828-y. ↩︎
  3. Sanchez-Albisua, I., Frolich, S., Barth, P.G., Steinlin, M., and Krageloh-Mann, I. (2014). Natural course of pontocerebellar hypoplasia type 2A. Orphanet J Rare Dis 9, 70. 10.1186/1750-1172-9-70. ↩︎
  4. Budde, B.S., Namavar, Y., Barth, P.G., Poll-The, B.T., Nurnberg, G., Becker, C., van Ruissen, F., Weterman, M.A., Fluiter, K., te Beek, E.T., et al. (2008). tRNA splicing endonuclease mutations cause pontocerebellar hypoplasia. Nat Genet 40, 1113-1118. 10.1038/ng.204.
    5. Barth, P.G., Aronica, E., de Vries, L., Nikkels, P.G., Scheper, W., Hoozemans, J.J., Poll-The, B.T., and Troost, D. (2007). Pontocerebellar hypoplasia type 2: a
    neuropathological update. Acta Neuropathol 114, 373-386. 10.1007/s00401-007-0263-0. ↩︎
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  6. Namavar, Y., Barth, P.G., Kasher, P.R., van Ruissen, F., Brockmann, K., Bernert, G., Writzl, K., Ventura, K., Cheng, E.Y., Ferriero, D.M., et al. (2011). Clinical, neuroradiological and genetic findings in pontocerebellar hypoplasia. Brain 134, 143-156. 10.1093/brain/awq287. ↩︎
  7. Kasher, P.R., Namavar, Y., van Tijn, P., Fluiter, K., Sizarov, A., Kamermans, M., Grierson, A.J., Zivkovic, D., and Baas, F. (2011). Impairment of the tRNA-splicing endonuclease subunit 54 (tsen54) gene causes neurological abnormalities and larval death in zebrafish models of pontocerebellar hypoplasia. Hum Mol Genet 20, 1574-1584. 10.1093/hmg/ddr034. ↩︎
  8. Uhlen, M., Fagerberg, L., Hallstrom, B.M., Lindskog, C., Oksvold, P., Mardinoglu, A., Sivertsson, A., Kampf, C., Sjostedt, E., Asplund, A., et al. (2015). Proteomics. Tissue-based map of the human proteome. Science 347, 1260419.10.1126/science.1260419. ↩︎
  9. Kang, H.J., Kawasawa, Y.I., Cheng, F., Zhu, Y., Xu, X., Li, M., Sousa, A.M., Pletikos, M., Meyer, K.A., Sedmak, G., et al. (2011). Spatio-temporal transcriptome of the human brain. Nature 478, 83-489.10.1038/nature10523. ↩︎
  10. Nowakowski, T.J., Bhaduri, A., Pollen, A.A., Alvarado, B., Mostajo-Radji, M.A., Di Lullo, E., Haeussler, M., Sandoval-Espinosa, C., Liu, S.J., Velmeshev, D., et al. (2017). Spatiotemporal gene expression trajectories reveal developmental hierarchies of the human cortex. Science 358, 1318-1323. 10.1126/science.aap8809. ↩︎
  11. Aldinger, K.A., Thomson, Z., Phelps, I.G., Haldipur, P., Deng, M., Timms, A.E., Hirano, M., Santpere, G., Roco, C., Rosenberg, A.B., et al. (2021). Spatial and cell type transcriptional landscape of human cerebellar development. Nature Neuroscience 24, 1163-1175. 10.1038/s41593-021-00872-y. ↩︎
  12. Schaffer, A.E., Pinkard, O., and Coller, J.M. (2019). tRNA Metabolism and
    Neurodevelopmental Disorders. Annu Rev Genomics Hum Genet 20, 359-387.
    10.1146/annurev-genom-083118-015334. ↩︎
  13. Ermakova, O., Orsini, T., Gambadoro, A., Chiani, F., and Tocchini-Valentini, G.P. (2018). Three-dimensional microCT imaging of murine embryonic development from immediate post-implantation to organogenesis: application for phenotyping analysis of early embryonic lethality in mutant animals. Mamm Genome 29, 245-259.10.1007/s00335-017-9723-6. ↩︎
  14. Stork, T., Nessler, J., Anderegg, L., Hunerfauth, E., Schmutz, I., Jagannathan, V., Kyostila, K., Lohi, H., Baumgartner, W., Tipold, A., and Leeb, T. (2019). TSEN54 missense variant in Standard Schnauzers with leukodystrophy. PLoS Genet 15, e1008411. 10.1371/journal.pgen.1008411. ↩︎
  15. Schmidt, C.A., Min, L.Y., McVay, M.H., Giusto, J.D., Brown, J.C., Salzler, H.R., and Matera, A.G. (2022). Mutations in Drosophila tRNA processing factors cause phenotypes similar to Pontocerebellar Hypoplasia. Biol Open 11.10.1242/bio.058928. ↩︎
  16. Lee, J.R., Kim, Y.H., Park, S.J., Choe, S.H., Cho, H.M., Lee, S.R., Kim, S.U., Kim, J.S., Sim, B.W., Song, B.S., et al. (2016). Identification of Alternative Variants and Insertion of the Novel Polymorphic AluYl17 in TSEN54 Gene during Primate Evolution. Int J Genomics 2016, 1679574.10.1155/2016/1679574. ↩︎
  17. Kagermeier, T., Hauser, S., Sarieva, K., Laugwitz, L., Groeschel, S., Janzarik, W., Yentür, Z., Becker, K., Schöls, L., Krägeloh-Mann, I., and Mayer, S. (2022). Human organoid model of PCH2a recapitulates brain region-specific pathology. bioRxiv. ↩︎