„Den eigenen Weg finden“
Von ihrem langen Weg zur Diagnose und ihrer Suche nach dem eigenen Weg für ihre erkrankte Tochter Linn und für die ganze Familie berichtet Kinderärztin Nellie aus Deutschland im Interview.
Wer gehört zu eurer Familie?
Wir, das sind wir Eltern Dirk und Nellie und unsere Töchter Linn (*2004 mit PCH 2a) und Ann (*2009).
Wie begann euer PCH2 Weg?
Anfangs konnten wir auf wenig Wissen über diese Erkrankung zurückgreifen. Das MRT ergab eine „olivo-ponto-cerebelläre Atrophie“. Erst über ein Internetforum sind wir später auf eine Familie gestoßen, deren 2 von 3 Kindern daran erkrankt sind. Über einen ehemaligen Mitbewohner, einen angehenden Humangenetiker, haben wir durch Zusendung der Briefe und MRT-Bilder dann die Diagnose erhalten. Die Genetik kam erst später.
Wie ging es euch in dieser ersten Zeit? Was hat euch geholfen und was war am schwersten?
Schwierig war die lange Zeit ohne Diagnose. Wir hatten keine Prognose, keine Hinweise, wie man diese Art der Behinderung behandelt.
Die ersten Jahre mit ständiger Unruhe, Unzufriedenheit, Schlaflosigkeit und ohne hilfreiche Ideen waren sehr hart. Was hätte ich für das Wissen gegeben, dass ihr der Magen und die Speiseröhre wehtaten und wie man ihr helfen kann.
Linn ließ sich überhaupt nicht transportieren, wir waren immobil und ziemlich allein.
Geholfen hat der Austausch in Internetforen mit anderen Familien mit schwerst behinderten Kindern. Wir haben inhaltliche Hilfe gefunden und waren auch nicht mehr so allein.
Als ich dann die erste andere PCH-Familie kennenlernte und wir am Telefon von völlig identischen Dingen sprachen, war es der Hammer. Der Anfang von etwas Gutem!
Die Diagnose hat uns so viel gebracht: Austausch, Sammlung von Wissen, Prognose, all die anderen Familien, die wir nicht mehr missen wollen.
Welche Symptome hat Linn? Haben sich diese im Laufe der Zeit verändert?
Linn kann nicht greifen, sitzen, stehen oder sich drehen. Sie ist durch uns mobil im Rollstuhl und wir lassen uns da auch nicht von viel aufhalten.
Sie ist stark sehbehindert, gilt als blind.
Sie hat eine therapieresistente Epilepsie, die wir aber als ausreichend therapiert empfinden. Mehr Medikamente würden sie zu wenig am Leben teilnehmen lassen. Die Anfälle sind zwar täglich, bereiten ihr aber kein Leid.
Linn war lange Zeit nur nachts beatmet, seit dem Ende der Pubertät aber fast 24h am Tag.
Probleme macht ihr der Darm mit Verstopfung und Blähungen. Außerdem hat sie eine Endometriose.
Relativ neu ist eine Blasenentleerungsstörung, weswegen nun auch regelmäßiges Katheterisieren nötig ist.
Wir würden aber sagen, dass wir schon soviel ausprobiert und erlebt haben, dass wir das meiste innerhalb von Stunden bis wenigen Tagen wieder in den Griff bekommen und mittlerweile seit Jahren eine Lebensqualität für sie erreicht haben, die fast immer gut ist.
Welche Symptome empfindet ihr als am belastendsten für euch und Linn?
Unklare Schmerzen und Unruhe, für die wir keine Ursache oder Lösungen finden.
Was hilft euch, euren Familienalltag zu meistern?
Unser Pflegeteam ist unsere große Ergänzung der Familie. Nur zusammen mit ihnen können wir das Leben mit Linn überhaupt führen. Wir haben viele Pflegekräfte bereits seit Jahren im Team und das Vertrauen ist sehr groß. Sie kennen Linn und ihre Bedürfnisse so gut, dass wir bedenkenlos auch mal ohne Linn wegfahren können. Allerdings können aufgrund des Pflegenotstandes teils nicht alle Schichten besetzt werden.
Auf welche Hilfsmittel würdet ihr nicht mehr verzichten wollen?
Alle: Rollstuhl, Pflegebett, Beatmung, Lifter, Stehtrainer, Inhalationsgerät, Rüttelweste, Cough assist, Orthesen.
Was sind die größten (Alltags-) Herausforderungen für euch?
– Der Pflegenotstand und die Abdeckung der Pflege im Alltag.
– Kämpfe mit Krankenkassen und Ämtern. Kämpfe um ausreichend Verbrauchsmaterialien und gute Hilfsmittelversorgung. Bürokratie. Jedes Jahr erneut der Antrag für Grundsicherung,…
– Urlaubsmöglichkeiten (Hospiz zu selten möglich, Urlaub mit Linn geht nur mit Pflege, Urlaub ohne Linn nur mit 24h Pflege zuhause möglich)
– Linn genug spannende und ansprechende Erlebnisse im Alltag zu bieten.
Wie sieht denn so ein “normaler Tag” in eurer Familie aus?
Wir übernehmen Linn um 6 Uhr vom Nachtdienst, machen sie für den Tag fertig und übergeben sie um 7 Uhr an den Frühdienst.
Linn hat um 8 Uhr Ergo- oder Physiotherapie zuhause und fährt danach mit der Pflegekraft in die Werkstatt (Förderbereich).
Um 14:45 Uhr kommen sie zurück. Entweder übernehmen wir dann oder es gibt einen Spätdienst, der Linn bis zum Nachtdienst versorgt, mit ihr spazieren geht oder andere Angebote macht.
Abends um 18 Uhr ist wieder Pflegerunde mit Abführen, Umkleiden, Waschen, Lagerung in die Ganzkörperorthese, und vieles mehr.
In der Zeit der Pflegeabdeckung gehen wir arbeiten, machen Haushalt, Schulaufgaben, Bürokratie oder Ehrenamt.
Wenn die Pflege ausfällt, seit dem Pflegenotstand häufiger, übernehmen wir viele Dienste, auch Nachtdienste, selbst.
Könnt ihr uns ein paar eurer schönsten Familienmomente schildern?
Der 70. Geburtstag der Omi, an dem alle zu uns gefahren sind und wir die Tage miteinander verbracht haben, gekrönt von einer gemeinsamen Fahrt auf die Leuchtenburg mit einem vollständigen Familienfoto, auf dem Linn einfach so gelacht hat. Normalerweise ist es sehr schwierig, ihr Lachen einzufangen und da ist es auf einem Familienfoto gelungen.
Ihr Geburtstag, den wir in einer Therme verbracht haben und alle auf ihre Kosten kamen.
Der Sommer, in dem wir fast immer den ganzen Tag auf unseren Terrassen leben und genießen, wie schön es bei uns ist, während Linn sich sowohl über das im Wind spielende Mobile mit Bändern freut als auch über die spielenden Nachbarskinder oder die Familiengespräche.
Was hat sich im Laufe der Zeit verändert und wie geht es euch heute als Familie?
Die ersten Jahre waren sehr hart, weil wir noch wenig Lebensqualität für Linn hatten. Als wir endlich viele grundlegende Dinge im Griff hatten, genug Pflegeentlastung im Alltag als auch im Urlaub, ist es viel schöner geworden. Linn lacht mittlerweile fast jeden Tag, früher konnten Monate vergehen, bis es ihr gut genug ging.
Andererseits bringen 20 Jahre Pflege mit immer unhandlicherer Linn und den größer werdenden Hilfsmitteln, Krisen und bürokratischen Kämpfen auch sehr viel Belastung und die Frage nach der Zukunft mit sich.
Was würdet ihr euch für euer an PCH2 erkranktes Kind wünschen?
Viel Freude, spannende Erfahrungen im Alltag und besondere Momente, und das alles ohne jegliche körperliche Beschwerden.
Und mehr Kommunikationsmöglichkeiten, damit sie uns sagen kann, was für ein Problem besteht, damit wir es schnell lösen können.
Immer gute Menschen an ihrer Seite, die das tun, was sie nicht kann, aber braucht.
Warum ist eure Linn etwas ganz Besonderes?
Linn springt den Menschen sehr schnell ins Herz, wenn sie die Chance dazu erhält.
Sie kommuniziert trotz ihrer schweren Beeinträchtigung sehr deutlich und gibt viel zurück.
Sie spürt die Stimmungen der Menschen um sie herum und reagiert darauf. Das ist immer authentisch.
Was würdet ihr Eltern, die gerade erst die Diagnose PCH2 erhalten haben, gerne mit auf den Weg geben?
Das Leben ist nicht vorbei! Es wird nur anders als geplant.
Wichtig ist, dass die Familie aus allen Mitgliedern besteht und sich nicht alles um diese Erkrankung drehen kann und muss.
Ihr seid herzlich eingeladen, Teil der PCH-Familie zu werden! Ich selbst empfinde das als Geschenk.
Anmerkungen
Man denkt am Anfang, dass die medizinischen Fachkräfte Bescheid wissen und einem zeigen, wie der Weg geht. Aber es ist wie mit normal entwickelten Kindern: Alles ist individuell und es gibt viele Wege. Zu einem guten Behandlungsteam gehört auf jeden Fall immer auch die Selbsthilfe und der Austausch, um den eigenen Weg zu finden.
„Das Leben ist nicht vorbei! Es wird nur anders als geplant.“
(Nellie)
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